Audiobericht zur Tanzgruppe SWR4
Audiobericht zur Tanzgruppe. Ausgestraht am 31.03.2014
Polka der Erinnerung
Hohenstein/Sindelfingen – In seinem Auto hört er am liebsten die Toten Hosen. In der Reutlinger Turnhalle hüpft er einmal die Woche zu Folkloremusik vom einen auf das andere Bein, schlägt die Stiefel an den Absätzen zusammen, dass es knallt. Er singt: „Veilchenblaue Augen und ein roter Mund, das hat jedes Schwabenmädel und nicht ohne Grund.“ David Kirschenheuter ist 23 Jahre alt, bindet seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz und studiert Archäologie in Tübingen. Sein Heimatort heißt Hohenstein und liegt gleich hinter Kleinengstingen auf der Schwäbischen Alb.
Bei Auftritten der donauschwäbischen Tanzgruppe in Reutlingen hat David eine kunstvolle Arbeitstracht an: eine schwarze Hose mit einem roten Sacktuch und einen Hut. Er dreht, schiebt und führt die Damen so lange durch den Saal, bis er sich mit dem roten Tuch den Schweiß von der Stirn wischen muss.
Davids Großeltern Erna und Johann Kirschenheuter sind Donauschwaben, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Dörfern in der Batschka im heutigen Serbien vertrieben wurden und als Flüchtlinge Anfang der 1950er Jahre nach Reutlingen gekommen sind. Sie haben selbst in der örtlichen Folkloregruppe getanzt. Heute sind neben David auch sein Bruder Lukas und dessen Freundin Mariana Peric dabei. Erna Kirschenheuter sieht in der Turnhalle die Enkel hüpfen und schunkeln. Das bunte Treiben schaut fast so aus wie im Gasthof ihrer Eltern damals in Heideschütz.
Niemand will zurückblicken
Es ist Ende der 1930er Jahre in der Batschka. Wenn die Geiger in Heideschütz zum Tanz aufspielen, liegt auf den Straßen das Laub. Die Ernte ist eingeholt, die Wochenarbeit getan, das Vieh im Stall. Erna Kirschenheuter ist ein kleines Mädchen, ihre Eltern haben einen Gasthof mit Kegelbahn. Sonntagabends kommt das ganze Dorf in das Lokal. Die Alten sitzen mit den Kindern auf den Bänken, schauen den Jungen beim Tanz zu, klatschen im Takt. Erna schielt durch den Türspalt. Sie sieht, dass die Damen ihr Sonntagsgewand tragen, eine Tracht mit acht Unterröcken. Die sind so gestärkt, dass sich die Frauen den ganzen Abend nicht setzen können. Sie stemmen die Arme in die Hüften, die Männer stampfen mit schweren Stiefeln wie Cowboys.
David und die anderen Tänzer seiner Gruppe kennen all das nicht mehr, diese alte Heimat, den sonntäglichen Tanz, das Leben auf den Feldern, die Pferdewagen oder die Plumpsklos hinter den Häusern. Die Mitglieder der Tanz- und Folkloregruppe Reutlingen sind zwischen 19 und 36 Jahre alt. Schon ihre Eltern waren nicht mehr in Südosteuropa zu Hause. Diese deutschen Siedlungsgebiete waren nur Orte der Erinnerung, die es in der heutigen Welt nicht mehr gibt. Erna und Johann Kirschenheuter, beide Anfang der 30er Jahre geboren, erzählen vor allem ihrem neugierigen Enkel David von früher. Sie brechen ihr Schweigen. Denn jahrzehntelang wollten die Vertriebenen nicht darüber reden, was geschehen war. Zu grausam waren die Erinnerungen an den Krieg, niemand wollte Flüchtling sein.
In Reutlingen ging es in den 1950er Jahren bergauf, auch für die Heimatvertriebenen. Da wollte keiner zurückblicken. Donauschwäbische Mütter und Väter schufteten in den Fabriken und kauften sich kleine Häuser für ihre großen Familien. Die Frauen gingen mit schwarzen Kopftüchern und dicken Röcken durch die Straßen bis zur Kirche, immer so, als liefen sie gegen den Wind an. Die Großmütter kochten Paprikasch, Sarma und Grumbiere mit Kraut. Die Kirchweih und der Silvesterball der Donauschwaben waren Höhepunkte im Reutlinger Stadtleben.
Die Russen kommen
David, der Jüngste der Familie Kirschenheuter, hat die Folkloregruppe lange belächelt. Als Teenager zog ihn die Neugierde dann doch in die Turnhalle, wo seine Eltern und Brüder tanzten. Plötzlich merkte er, dass die Tradition der Ahnen seine Seele berührt: die Böhmische Polka, der Walzer, die Burschenweihe oder die Musikantenpolka. Seither ist er dabei. Manche seiner Mittänzer sind nicht donauschwäbischer Abstammung, sie haben einfach Spaß an der Musik und der Bewegung. David hingegen gefällt gerade die Vorstellung, dass er dieses besondere Hobby hat, das mit ihm selbst und seiner Abstammung zu tun hat.
Vor acht Jahren war er in den Dörfern seiner Vorfahren. In Serbien entdeckte David auf rostigen Schildern deutsche Wörter. Manche Ställe waren zerfallen, andere neu aufgebaut. Auf Terrassen schlangen sich Kletterblumen die Fassaden empor. Die Sonne schien, als würde sie hier nie untergehen.
Im Frühjahr 1945 hören die donauschwäbischen Orte von einem Tag auf den anderen auf, deutsch zu sein. Erna ist zehn Jahre alt, als russische Soldaten die Haustür eintreten. Die Männer aus dem Dorf sind im Krieg oder von Partisanen verschleppt. Ein Soldat packt Ernas Mutter, zerrt sie grob an sich. Nur das laute Schreien der Kinder verhindert Schlimmeres. Dann kommen die Partisanen von Titos Volksbefreiungsarmee. Fünf Minuten geben sie den deutschen Familien, bevor es ins Vernichtungslager Rudolfsgnad geht. Auch Johann Kirschenheuter ist dort interniert. Dass für ihn und Erna nach Zwangsarbeit und Flucht ein Leben als Eheleute in Reutlingen folgen würde, ahnt in dieser dunklen Stunde keiner.
Ein Erinnerungsort für die Heimatvertrieben
Henriette Mojem ist Geschäftsführerin im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen. In dem Erinnerungsort für die Heimatvertriebenen gibt es eine Dauerausstellung, eine große Bibliothek und kulturelle Veranstaltungen. Etwa 20?000 Besucher empfängt das Haus im Jahr, sie kommen aus der ganzen Welt. „Hier erlebt man emotionale Ausbrüche, das können Sie sich gar nicht vorstellen“, erzählt Henriette Mojem, während sie durch die scheinbar endlosen Gänge mit Erinnerungsstücken geht. Im Foyer hängt ein kunstvoll verzierter Liedtext von dem Komponisten Franz Léhar, dessen Mutter Donauschwäbin war: „Ich weiß es selber nicht, warum man gleich von Liebe spricht, wenn man in meiner Nähe ist. Meine Lippen, sie küssen so heiß, meine Glieder sind schmiegsam und weiß. In den Sternen, da steht es geschrieben, du sollst küssen, du sollst lieben.“
Henriette Mojem begegnet in der Ausstellung häufig weinenden Menschen – „vor allem Männern“. Tief ergriffen stehen die Besucher vor einem Gemälde von Stefan Jäger, das Bauern bei der Feldarbeit in der alten Heimat zeigt. Oder vor den Modellen der Vernichtungslager Gakowa und Rudolfsgnad. Rund 10?000 Menschen starben allein in Rudolfsgnad, wo auch Erna und Johann Kirschenheuter festgehalten wurden. Eng zusammengepfercht hausten die Familien im Schmutz. Ohne Essen, zur Arbeit gezwungen. Viele wurden gefoltert. Andere erkrankten schwer. Jeden Morgen sei ein Lastwagen durch die Häuserreihen gefahren und habe die Leichen der vergangenen Nacht aufgeladen, erzählt Henriette Mojem.
Sie selbst ist vor 27 Jahren mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Temeswar im Banat nach Württemberg gekommen. Traumata vererben sich über Generationen, meint sie. Bekommen deshalb oft auch die jungen Besucher der Ausstellung feuchte Augen? Jene, denen wie David Kirschenheuter keine Heimat genommen wurde, die nie in einem Lager interniert waren, die nur die alten Lieder und Bräuche kennen? Geschichtsstudenten rät Henriette Mojem, eine Arbeit über Donauschwaben zu schreiben. Auf diesem Gebiet sei immer noch wenig erforscht.
Die Geschichte der Ahnen
David Kirschenheuter glaubt, dass seine Großeltern einen besonders starken Überlebenswillen besaßen. Wieso sollten sie es sonst geschafft haben und so viele andere nicht? Er ist von der unglaublichen Geschichte seiner Vorfahren fasziniert: Seuchen und Hungersnöte plagten die deutschen Auswanderer im 18. Jahrhundert, als sie in kleinen Schiffen über die Donau in Richtung Osten und in ein neues Leben aufbrachen. Heiße Sommer, kalte Winter und das Sumpffieber befiel mehrere Generationen auf den launischen Äckern im Osten. Doch Davids Vorfahren überlebten, nur deshalb gibt es ihn. Vor dem Hintergrund, sagt er, komme ihm jeder seiner Schritte wie ein Stolpern in der Unendlichkeit vor.
Wie kann die Erinnerung an die Donauschwaben wachgehalten werden? Ein junger Mann aus der Reutlinger Folkloregruppe antwortet: „Warum sollen wir in die alte Heimat fahren und einen Gedenkstein aufstellen, wenn wir hier tanzen können?“
Eva-Maria Manz, 05.03.2014 10:21 Uhr